Philosophienovelle/Klagegedicht u.v.m.

Gedanken zu Friedrich Hölderlin!

Liebe Leserinnen und Leser!

Wir befinden uns alle im Moment in einer Ausnahmesituation und als Philosophinnen und Philosophen stellen wir uns diesen Momenten durch Selbstbeobachtung und Reflexion. Eigentlich hätten wir uns getroffen, um über den Dichter Friedrich Hölderlin zu reden, seinem Geburtstag zu gedenken und die philosophischen Gedanken herauszuschälen. Eigentlich!

Jetzt ist alles anders. Es tut mir weh, ich bekenne es, dass wir uns alle, global verteilt, in dieser Situation befinden und hoffe es sehr, es wird wieder alles in solchen Bahnen kommen, dass wir, von Angesicht zu Angesicht, dieser Person nachspüren können.

 

In diesen Lebensmomenten fühlt man sich, und ich meine es nicht ironisch oder lustig, an die Isolation Hölderlins im „Turm“ erinnert.

Wie geht man mit so einer Situation um?

Wie geht man mit sich um?

Welche Gedanken drängen sich auf? Was macht es mit mir als Menschen?

Werde ich gestärkt? Schwächt es mich? Verwandelt es mein Selbst, mein Selbstverständnis von mir und der Selbstverständlichkeit der Globalisierung, der Vernetzung und der Gewohnheiten? Der liebgewonnenen Gewohnheiten?

Viele Fragen drängen sich an die Oberfläche des Bewusstseins und meines Seins. Vielleicht, und ich möchte es nicht strapazieren, überinterpretieren oder geschmacklos werden, vielleicht ging es Hölderlin, in seiner Isolation, mit seiner Gedankenwelt, ähnlich.

 

Wie nähert man sich einer Person, die vor 250 Jahren geboren wurde?

Ist der Abstand nicht vielleicht viel zu groß?

Ich habe vor kurzer Zeit ein Buch gelesen von Jhumpa Laheri, „Die Kleider der Bücher“ (M. Knapp. Übers. Aus dem Ital.) Rowohlt Taschenbuch Verlag Reinbek bei Hamburg, Nov. 2018.

Darin, in diesem sehr schmalen Bändchen, fand ich ein Zitat vorangestellt von Walt Whitman aus seinen „Grasblätter“:

„Camerado. Dies ist kein Buch. Wer dies berührt, berührt einen Menschen.“ W. Whitman!

 

Dieses Zitat von Whitman hat mir sehr geholfen. Liest man Hölderlin, und dies ist nun mal der einzige Zugang, außer einer Vertonung des Geschriebenen, so nähert man sich diesem Menschen. Wie man sich einer historischen Person auch nur so nähern kann. Man nähert sich, durch die Tinte auf Papier, durch die vergangene Zeit und Zeiten, immerzu einem Menschen, der diese Tinte gesetzt hat.

 

Diesem Menschen nachzuspüren ist Abenteuer und Pflicht zugleich.

Ich würde mich sehr freuen, spürten wir diesem Menschen doch noch persönlich nach.

 

Dennoch, in diesen Zeiten geht es auch darum, sich selbst nachzuspüren. So empfinde ich es auch als meine Aufgabe, Gedanken mitzugeben.

 

In dieser Zeitkapsel, in der wir uns im Moment befinden, gilt es, sich selbst nachzuspüren und zu reflektieren, was man eben zu reflektieren vermag. Es gilt eine Brücke zu schlagen aus dieser Zeitkapsel, durch die Gedanken, der bizarren Wahrnehmung der Welt, um zu erkennen, was wir haben und wir tun müssen, um dieses zu schätzen, um vielleicht auch Dinge zu verändern. Sorgfalt mit sich, dem Nächsten und der Welt.

Für Sie nur die besten Wünschen und vor allem: Gesundheit!

Florian G. Stickler

 

Liebe Leserinnen, liebe Leser!

Hölderlin hat sehr viele Gedichte, über einen langen Zeitraum, in ganz unterschiedlichen Seelenzuständen, verfasst.

Es gibt recht lange Gedichte, die schon eher Erzählungen sind. Kurze Gedichte, die eine Einsicht, eine Idee, beschreiben und festhalten wollen.

Sein Versmaß ist eigenwillig, zunächst nach antiken Vorbild, später wird es immer mehr sein eigener Stil.

Ein Stil, der nicht leicht ist und nicht leicht sein möchte. Man soll sich mit Hölderlin auseinandersetzen, abarbeiten.

Seinen Gedichten, so sollte es eigentlich immer sein, nähert man sich in idealer Weise, laut lesend. Damit reduziert man die Lesegeschwindigkeit. Man überliest nicht in Eile, wie wir es heute gewohnt sind, mangels der knappen Zeit, obwohl diese doch immerzu gleich zugeteilt ist, wir füllen oder müssen sie heute einfach nur mehr ausfüllen!

Man reduziert also die Lesegeschwindigkeit, lässt sich so auf den Rhythmus seiner Stimme ein und erfasst den Inhalt. Kann ihn so sich erarbeiten und verarbeiten. Eigentlich wie ein Mahl, das man verdaut, zuvor aber genießt!

 

Ein langsames Lesen, das ist es, was wir uns in den Zeiten der Isolation erlauben sollten, um uns so unserer Hauptperson, Friedrich Hölderlin, zu nähern!

Aus einer Ausgabe, die ich an anderer Stelle bereits empfohlen habe: Friedrich Hölderlin, Gesammelte Werke. Hans Jürgen Balmes (Hg.). Fischer Taschenbuch Verlag. Frankfurt/Main, 2. Aufl. Juli 2014, mit freundlicher Genehmigung des Carl Hanser Verlages, Wien. Darin auch Anmerkungen, Zeittafel und Nachbemerkung: Aus Kindler Literatur Lexikon!

In dieser Ausgabe ist ein Gedicht aus den Jahren 1796 – 1799

 

Lebenslauf:

 

„Hoch auf strebte mein Geist, aber die Liebe zog

 

     Schön ihn nieder; das Leid beugt ihn gewaltiger;

 

          So durchlauf ich des Lebenslauf

 

               Bogen und kehre, woher ich kam.“ (Friedrich Hölderlin)

 

Ein kurzes, aber sehr dichtes Gedicht. So ist es ja im Wort „Gedicht“ bereits gegründet  Es beschreibt einmal das Selbstvertrauen des Hölderlin zu sich und seinem Geiste, seinen Fähigkeiten. Es beschreibt aber auch die Gefühle, die ihn übermannen. Es beschreibt den Lebenslauf, der dort endet, woher man kam und nimmt somit auch die philosophische Dimension der Frage nach Zeit, Sinn des Lebens und der Frage auf: Woher kommen und wohin gehen wir?

Es ist der Kampf zwischen der Vernunft – dem Geist – und der Liebe – dem Gefühl.

Wunderbar verkürzt, wunderbar dicht und immer wieder hochaktuell.

Wir glauben rein vernünftig zu handeln. Rein der Intellekt weist uns den Weg. So meinen wir.

Gerade diese Zeiten zeigen uns, wie stark wir doch auf Gefühl, Nähe Zuneigung, Gespräche angewiesen sind. Fast schon wie eine Aussage aus dem Neuen Testament, bei der Versuchung Jesu Christi. Eine Aussage, die sich auf das Alte Testament stützt: „Der Mensch lebt von mehr, als von Brot allein. Von Jedem Wort Gottes lebt er!“

 

 

Liebe Leserinnen und Leser!

Vor vielen Jahren las ich ein Buch des berühmten Bergsteigers Reinhold Messer. Das Buch heißt: R. Messer, „Die Freiheit aufzubrechen, wohin, ich will. Piper, 2. Aufl. Okt. 1995, München.

Ein wunderbarer Buchtitel, der ja genau das zu umschreiben scheint, worum es bei Messner geht. Freiheit. Körperliche Freiheit. Abenteuer. Ungebunden sein und die Welt erkunden.

Am Rande, ich gebe es sehr gerne zu, nur am Rande, nahm ich wahr, dass auf dem Vorsatzblatt des Buches ein Gedicht Hölderlins wiedergegeben ist. Das Gedicht heißt „Lebenslauf“. Aus diesem Gedicht stammt eben der Titel des Buches: „Die Freiheit, aufzubrechen, wohin ich will.

Jetzt tun sich plötzlich Verknüpfungen im Laufe eines Leselebens auf, die ich sehr liebe. Auch dies gebe ich sehr gerne zu. Friedrich Hölderlin verknüpft sich für mich mit Reinhold Messner und mit seinem Buchtitel, den er aus dem Gedicht, so wie er erklärt,

„Lebenslauf“  von Hölderlin entnahm.

Ich gebe das Gedicht hier wider, nicht aber aus dem Buch Reinhold Messners, sondern aus:

Friedrich Hölderlin, Gesammelte Werke. Hans Jürgen Balmes (Kommentar und Hg.). Im Anhang auch Anmerkungen und ein Artikel aus Kindlers Literatur Lexikon.  Fischer, 2. Aufl. Juli 2014. Frankfurt/Main. Lizensausgabe Genehmigt durch Carl Hanser, Wien.

 

Friedrich Hölderlin: „Lebenslauf“ (1799-1806, S. 118 im angegebenen Buch)

 

„Größers wolltest auch du, aber die Liebe zwingt

     All uns nieder, das Leid beuget gewaltiger,

       Doch es kehret umsonst nicht

         Unser Bogen, woher er kommt.

 

Aufwärts oder hinab! herrscht in heil´ger Nacht,

    Wo die stumme Natur werdende Tage sinnt,

        Herrscht im schiefesten Orkus

            Nicht ein Grades, ein Recht noch auch?

 

Dies erfuhr ich. Denn nie, sterblichen Meistern gleich,

    Habt ihr Himmlischen, ihr Alleserhaltenden,

       Daß ich wüßte, mit Vorsicht

          Mich des ebenen Pfads geführt.

 

Alles prüfe der Mensch, sagen die Himmlischen,

   Daß er, kräftig genährt, danken für alles lern,

       Und verstehe die Freiheit,

           Aufzubrechen, wohin er will.“

 (F. Hölderlin, „Lebenslauf“, Orthografie wie in Vorlage!)

 

Tatsächlich! Hier geht es um Freiheit. Ganz anders als in dem kurzen Gedicht, das wir in Teil II sahen, das auch zeitlich früher eingeordnet wird, ist dieses Gedicht später, länger und auch schärfer formuliert. Es hält sich sehr stark in der Ausdrucksweise an die Antike. Einmal wie es die Zeit vorgibt, einmal aber auch der Vorlieben des Hölderlin für alles Antike geschuldet. Das Thema oder die Aussage ist allerdings der „Aufklärung“ geschuldet, nämlich „Freiheit“. Es geht hier aber nicht nur um körperliche Freiheit, und wir wissen, dass Hölderlin, wie die meisten Zeitgenossen, sehr viel zu Fuß gehen musste, gerade Hölderlin war enorm viel zu Fuß unterwegs, sondern es geht auch  und vor allem um Freiheit der Gedanken, des Denkens.

Es ist aber nicht nur der letzte Teil, der wichtig scheint „ „Aufzubrechen, wohin er will.“, sondern der Satz davor...“Und verstehe die Freiheit, Aufzubrechen, wohin er will.“

Wir müssen uns darüber klar werden, ganz nach dem Duktus der Aufklärung, wir müssen uns erst klar werden, dass wir frei sind und wir diese Freiheit nutzen dürfen, müssen!

Ich denke, so meinte es auch Reinhold Messner. Es geht bei ihm nicht nur um die körperliche Beweglichkeit und Freiheit, sondern auch die Freiheit des Geistes. So kennen wir Messner ja auch!

 

Mit Freiheit geht aber auch immer Verantwortung einher. Das darf man nicht vergessen und unterschätzen. Gerade in diesen Tagen der besonderen Sicht auf die Freiheit jedes einzelnen Bürgers.

 

Ich muss bei dem Thema Freiheit immer an den Hl. Augustinus denken. Er prägte einmal einen wunderbaren Satz: „Liebe, dann tu, was Du willst.“ (Hl. Augustinus)

Liebt man, ist man sich also der Verantwortung für den Nächsten und das Nächste bewusst, wird man alles tun dürfen, immer im richtigen Maß der Verantwortung. Man wird so nicht schaden, denn das würde der Liebe widersprechen.

 

Freiheit, das Thema Hölderlins, der Aufklärung, des „Deutschen Idealismus“, neben „Bildung“ bei Hegel, aber auch Reinhold Messners Thema, bis heute, jetzt, in diesen Tagen!

 

Florian G. Stickler.

 

 

 

 

Liebe Leserinnen, liebe Leser!

In der ersten Betrachtung zu unserem Helden, Friedrich Hölderlin, gingen wir von der Beziehung eines Textes zum jeweiligen Leser aus. Ich führte dazu Walt Whitman an.

Ich möchte in dieser Betrachtung darauf noch ein wenig näher eingehen.

Ich beziehe mich hierbei auf den zentralen Text von Walt Whitman: Grashalme, Diogenes Taschenbuch, Ausg. 2019. Diogenes Verlag Zürich.

Walt Whitman ist entscheidend für Poesie und Literatur, für die Literaturgeschichte der USA, aber auch ganz allgemein für Philosophie.

Es ist ein wunderbares Buch, in das man sich sehr schnell verlieben wird.

Poesie, meist nicht in Reim, sondern in einer sehr eigenwilligen Form, dennoch mit Bezügen zu seinen Vorgängern. Man lernt Walt Whitman (1819-1892), der Journalist war, aber eben auch Schriftsteller, durch seine Romane, etwa „Die Abenteuer des Jack Engle“ kennen, das erst vor einiger Zeit, als sein Werk, wieder aufgefunden wurde.

 

Ich möchte nochmal das Gedicht, jetzt, aus den oben genannten Grashalmen, zitieren:

...„Camerado, dies ist kein Buch,

Wer dies berührt , berührt einen Mann,

(Ists Nacht? Sind wir allein zusammen?)

Ich bin es, den du hältst und der dich hält,

Aus diesen Seiten spring ich in deine Arme – Tod ruft

    mich hervor.“…… (Walt  Whitman, Grashalme, 2019, S. 422)

 

Der Text ist etwas länger, ich zitiere nur den entscheidenden Moment für uns.

Walt Whitman stellt hier eine große Nähe her. Es ist hier, in diesem Text, etwas anders übersetzt, als die Übersetzung aus unserem Teil I.

 

Entscheidend bleibt allerdings, dass es Whitman gelingt, den Leser mit dem Urheber zu vereinen. Anwesenheit des Verstorbenen zu produzieren. Er tropft mir quasi, gleichsam als unsterblicher Dichter, lebend durch seine Texte, in die Arme. Durch das Buch halte ich auch ihn.

Eine wunderbarer Zugang zu einem Text, der doch eigentlich, allein durch den historischen Abstand, verloren scheint. Wir sahen dies schon in Teil I.

 

Warum diese Brücke nun? Warum von Hölderlin zu Whitman? Es sind zwei Welten, die hier aufeinander krachen. Zeitlich, räumlich, sprachlich. Das Leben, die Umstände sind völlig andere. Literaturhistorisch mag dies völlig absurd klingen. Eher mit Poe zu vergleichen, mit Thoreau... Aber mit Hölderlin?

Ich möchte hier keinen Vergleich anstellen. Ganz sicher nicht! Worum es mir geht, ist die entscheidende Frage innerhalb der Texte: nämlich “Freiheit“. Es geht mir um die „Innerlichkeit“, fast wie bei Kierkegaard, dem dänischen Theologen und Philosophen (1813-1855). Es geht mir darum, Gefühle der Autoren, der Dichter zu teilen. Es geht mir um Gefühle. Das, was mir eben bei Whitman entgegen fließt. Seine Tinte, die zu meiner wird. Ähnlich bei Hölderlin. Es mag uns so schwer fallen, einen Zugang zu einem Menschen zu finden, der vor 250 Jahren geboren wurde, im Turm lebte. Abgeschottet in Gedanken und Wort. Was wollte er uns mitteilen? Das ist doch die spannende Frage. Gibt es hier eine Persönlichkeit, die mir aus seinen Texten entgegen fließt? Auch Hölderlins Texte fasse ich an, und damit ihn, ganz konkret. So mag die Verknüpfung absurd erscheinen, für mich ist es eine Verbindung, die ich herstellen möchte. Eine Telefonverbindung zu einer Person, die nicht mehr erreichbar erscheint, deren Nummer vergeben ist, die aber dennoch, durch die Texte, das Gefühl und deren Aussage erreichbar ist. Lässt man es nur zu!

 

Auch Whitman schreibt über Freiheit. Er erlebte den Bürgerkrieg in den USA hautnah. Sein Bruder war im Krieg, er wollte ihn suchen, erlebte die Front, kümmerte sich um die Kranken und Verletzten, erlebte so den Schrecken. All diese Gefühle fließen in den Text, beim öffnen, fließen sie wieder heraus. Sie aufzufangen ist unsere Aufgabe.

So heißt es, in der oben genannten Ausgabe, S. 204, Abschnitt 5:

„Von Stund an sprech ich mich frei von Schranken und eingebildeten Grenzen,

Gehe, wohin ich will, mein eigener, unumschränkter

Herr,...“… (Walt Whitman)

 

Ich zitiere hier wieder nur den ersten Abschnitt. Es würde zu lang werden.

Diese Freiheit, die er hier beschreibt, ist ähnlich formuliert, wie wir es bei Hölderlin in der Betrachtung II sahen.

Diese Freiheit, die nicht nur lokal gemeint ist, sondern auch mental. Es ist eine gedankliche Freiheit, die weder ein Krieg, noch der Hölderlin-Turm einengen kann.

Über dieses Konzept nähern wir uns Hölderlin extrem an. Diese Freiheit des Denkens und der Sprache. Was wird es noch für uns zum Entdecken geben?

 

Nutzen wir unsere Freiheit, auch wenn es im Moment hauptsächlich im Denken geschieht,  nutzen wir unsere Tinte. Sie wird jemandem irgendwann entgegen tropfen.

 

Florian G. Stickler

 

 

 

Herr Neumann sucht das Glück!

 

(von  F.G. Stickler)

 

Dunkel ist es. Sehr, sehr dunkel. Man kann die sprichwörtliche Hand nicht vor Augen sehen. Plötzlich, ein ratsch und es knistert leise und zufrieden. Eine Flamme flackert auf und erhellt das Dunkel. Eine partiell beleuchtete, halb sichtbare Hand hält ein Streichholz an einen schon angebrannten Docht, der sofort anfängt zu brennen und das Dunkel in ein gemütliches, wohliges Gefühl erleuchtetet. Ein Mann wird sichtbar. Er rückt seinen Stuhl, ein einfacher Stuhl ohne viel Schnickschnack, möglichst nah an die Kerze, um Seiten eines Buches zu erleuchten, damit er die tiefschwarzen Buchstaben erkennen und förmlich mit seinen Augen aufsaugen kann.

Dieser Mann ist Herr Neumann. Warum er mit einer Kerze liest vermag er selbst nicht zu erklären. Vielleicht, um sich vor sich selber zu verstecken? Vielleicht empfindet er es als gemütlicher? Vielleicht ist es auch einfach, nein nicht Geiz, Sparsamkeit, um die Heizkosten zu senken?

Herr Neumann mag diese Momente. Momente der Ruhe und Stille. In diesen Momenten ist er ganz bei sich. Sein innerer Blick ist konzis auf sich und seine Gedanken gerichtet. Er lässt sich inspirieren und ablenken von seinen Büchern. Ja, seine Bücher. Sie sind seine Welt. Wäre der Raum erleuchtet, so würden man Regal an Regal erkennen können. Nicht einfach an den Wänden entlang. Nein, diese Art von Bibliothek hat jeder, so Herr Neumann. Nein! Herr Neumann hat seine Regale labyrinthartig aufgestellt. Man kann sich in ihnen verlieren, verlaufen und nie wieder finden, ganz wie in seinen Büchern. Sich nie wieder finden, sich vergessen. Ein unerhörtes, unerreichtes Ziel, nach dem Herr Neumann sein ganzes Leben zu streben scheint.

Herr Neumann hat etwas, worum ihn wohl die ganze Menschheit beneiden würde, wenn sie um seine Fähigkeiten wüssten. Weil sie alle keine Ahnung haben, so Herr Neumann. Sie haben keine Ahnung, wie sehr er leidet, wie sehr er sich nach NICHTS sehnt. Herr Neumann… Herr Neumann kann etwas, worum ihn wohl die ganze Menschheit beneiden würde, wenn sie um seine Fähigkeiten wüssten, denn Herr Neumann hält es geheim. Er hält sich geheim, am meisten vor sich selbst. Herr Neumann liebt Bücher. Gut, das ist nichts besonderes. Viele Menschen lieben Bücher. Heute, in dieser unverbindlichen, schnelllebigen Zeit, lieben zwar immer weniger Menschen das geschriebene, verbindliche, verlässliche Wort, aber viele tun es doch noch. Sie lieben die Bücher, aber nicht so wie

Herr Neumann liebt sie. Er liebt sie materiell. Das Papier und die Struktur. Das Darüberfahren mit den Fingern. Das Rascheln der Seiten. Die Fasern. Er kann die einzelnen Papiersorten erspüren, erfühlen und unterscheiden. Er liebt die Buchstaben. Mit schwarzer Tinte eingeprägte kleine Wunderwerke, die doch zunächst nichts, gar nichts bedeuten, außer man vermag die Kunst des Lesens und Schreibens anzuwenden, erst dann, wie bei einem geheimen Code, fügen sich die einzelnen Tintenkleckse zu Buchstaben, Silben, Wörtern und Sinn zusammen und man kann Wörter und Texte verstehen und sie genießen, so wie Herr Neumann es eigentlich ständig tut. Er frisst sich wie mit einem Laser durch die Seiten. Liest und liest Wort für Wort. Er generiert aus Wörtern Sätze. Er verknüpft Wort zu Wort. Aber nicht nur das.

Herr Neumann kennt jedes seiner Bücher auswendig und das sind bis zu 10000 Stück. Er weiß wo sie stehen und kennt jedes Wort daraus. Eine Übertreibung? Herr Neumann kann etwas, worum ihn wohl die ganze Menschheit beneiden würde, wenn sie um seine Fähigkeiten wüssten.

 

Herr Neumann leidet, denn er kann nicht vergessen!

 

Die Fähigkeit, die Herr Neumann besitzt ist einfach und simpel. Er kann nicht und nichts vergessen. Herr Neumann leidet unter dem absoluten Gehirn.

 

Geschrei dringt durch die Stille. Geschrei… Babygeschrei. Ganz deutlich hört er es. Herr Neumann hört Stimmen. Beruhigende, angestrengte, schmerzerfüllte Laute. Herr Neumann hält es nicht mehr aus. Es platzt ihm der Schädel. An jeden einzelnen Tag kann sich Herr Neumann mit absoluter Genauigkeit erinnern. Herr Neumann leidet unendliche Qualen. Er kann nichts vergessen. Seit seinem ersten Atemzug, den er auf dieser Welt getan, erinnert sich Herr Neumann an jedes Wort, jedes Gesicht, jede Handlung, jedes Geräusch, jeden Geruch….

Das Babygeschrei, das er hört, immer und immer wieder, ist er selbst. Es ist seine Geburt, die er erinnert und die er nicht vergessen kann. Er durchlebt sie immer und immer wieder. Schmerzen, seine Schmerzen, aber auch die seiner Mutter, die bei der Geburt fast gestorben wäre, durchdringen seinen Schädel. Herr Neumann leidet unerklärliche Qualen und er weiß nicht, wie er sie sortieren soll. Er ist sich bewusst, dass nur er diese Fähigkeit besitzt. Anfangs dachte Herr Neumann, es sei normal. Er glaubte natürlich, jeder Mensch besäße diese Fähigkeit des Absoluten. Erst nach und nach musste er feststellen, dass er in manchen Situationen anderen Menschen überlegen war. Er konnte sich an alles, wirklich alles erinnern. Nichts vergaß er. Geburtstage, Termine, Fernsehprogramme. Vertragseinzelheiten, Politisches, Geschichtliches, alles.

Herr Neumann ist von Beruf Lektor. Er liest und liest und kann auf diese Weise seinen Büchern immer nahe sein. Aber so kann er auch seine Fähigkeiten einbringen. Er liest unglaublich schnell und hat ein System entwickelt, das ihm erlaubt mit jedem Auge isoliert jeweils eine Seite zu lesen. Das linke Auge liest die linke Buchseite, das Rechte die rechte Seite. Außerdem reicht es Herrn Neumann, wenn er wie ein Scanner über die Seiten fliegt. Der Inhalt erschließt sich ihm von allein und….Herr Neumann vergisst nichts. So schafft er es, je nach Buchstärke, ein Buch in einer Stunde zu lesen. Es ist faszinierend möchte man meinen? Ja, es ist faszinierend, wenn man nicht Herr Neumann ist. Denn Herr Neumann leidet. Er kann nichts vergessen. Sein Hirn ist so voll, so dass er bisweilen glaubt, es würde ihm in tausende einzelne Nerven zerspringen. An Schlaf ist beispielsweise nicht zu denken. Selbst in der Nacht erinnert Herr Neumann alle Details seines Lebens. Jeden Schmerz den er durchlebte kehrt wieder, immer wieder. Jeder Atemzug seiner Kindheit, jedes Detail seiner Jugend, jede Sekunde seines ganzen Lebens und das seiner Umwelt, sowie das der Welt, wie er es aus den Nachrichten und dem Fernsehen erlebt, ist ihm in jeder Sekunde und in jeder Phase seines Lebens gegenwärtig. Zu diesem schrecklichen Geheimnis, zu diesem furchtbaren Charisma, das Herrn Neumann getroffen hat, gesellen sich aber noch andere Schwierigkeiten. Herr Neumann kann dagegen nichts tun. Er ist nicht in der Lage mit dem Lesen aufzuhören. Es ist Teil seines Schicksals immer wieder diesem gigantischen Netzwerk innerhalb seines Gehirnes Nahrung zu bieten. Er muss lesen, er muss verdauen, er kann nur nicht ausscheiden.

Ein weiteres Problem kommt hinzu. Wer nun annehmen sollte, dass diese Zustände doch paradiesisch sind, man möchte nur an Schule usw. denken, alle Fakten immer griffbereit, wer glaubt Herr Neumann müsse doch ein Genie sein, der geht in die Irre. Denn Herr Neumann leidet große Qual. Denn bei all den Fakten, die er förmlich in sich hineinfrisst, die er einsaugt und in sich trägt; die er genießt und doch so hasst, bei aller Bücherliebe und den haptischen Genüssen, die Herr Neumann jeden Tag aufs neue in seiner Welt voll Bücherregalen sucht, trifft ihn ein weiterer Schicksalsschlag. Her Neumann kann keine Informationen mit anderen verknüpfen. Herr Neumann versteht nur Fakten, aber keine Zusammenhänge. Er versteht nur Sätze aber keinen Sinn. Herr Neumann liest eine italienische Grammatik und kann alle Wörter auswendig. Er wird sie niemals mehr vergessen, er kann aber die Sprache nicht sprechen oder leben, da er die Wörter nicht zu verknüpfen weiß. Alles Wissen in seinem Hirn sind Einzelheiten, die sich niemals zu einer Lebenserfahrung, gar Weisheit zusammensetzen werden. Ein Puzzlespiel aus Einzelteilen, das niemals ein fertiges Bild ergeben wird.

Herr Neumann sucht also. Er liest also. Er grübelt also. Und wird niemals finden. Es sei denn…

 

Ein Buch, so hörte Herr Neumann, ein ach so geliebtes Buch soll ihm die Rettung bringen. So hat er es aus einem seiner Bücher erfahren. Ein Buch muss es geben, dass ihm helfen wird, aus dem qualvollen Leiden, das ihn schüttelt und niemals aus dem Würgegriff der Fakten entlässt. Ein Buch, welches, so hofft Herr Neumann inständig, aus möglichst vielen Seiten besteht. Aus Seiten des Vergessens, aus Seiten der Wohltat, aus Seiten des Schlafes, der Entspannung und der Ruhe. Ein Buch, welches ihm Erquickung bringen wird. Es wird ihm Genugtuung verschaffen zu wissen, dass es eine Medizin gibt. Seiten, die er mit seinen Fingern ertasten kann. Tinte die sich zu Worten, Buchstaben, Silben und Sätzen formen. Die ihm helfen werden, aus seinem Kreislauf der Ewigkeit herauszukommen. Diesem Buch wird er ein eigenes Regal gestalten. Diesem Buch würde er einen Sonderplatz einräumen. Dieses Buch würde er genießen und nicht mit zwei Augen, sondern mit einem Augenpaar, langsam und mit Geduld lesen. Dieses Buch würde er lieben und es würde ihm endlich Ruhe verschaffen, denn Herr Neumann leidet. Was hat Herr Neumann nicht schon alles versucht. Er hat Romane zur Zerstreuung gelesen. Dokumentationen, wissenschaftliches und populärwissenschaftliches Gut, Museumskataloge und spirituelle Literatur. Religiöses und wieder Romane. Herr Neumann hat alles probiert, aber nichts hat geholfen. Er kann nichts vergessen. Nichts kann ihn ablenken noch zerstreuen. Nichts kann ihm helfen noch weiterhelfen. Wie ein See, der mit einem Staudamm angestaut wird, so türmen sich die Erinnerungen aus Einzelheiten und Fakten in Herrn Neumanns Gehirn. Wenn nur einmal der Damm brechen, und der See sich entleeren würde.

Dabei sucht Herr Neumann doch das, was alle Menschen suchen. Das Glück. Aber wie und wo soll er es finden? Ein Buch, so Herr Neumann, ein Buch kann mir helfen. Er ist sich absolut sicher. Er ist zwar nicht in der Lage Einzelheiten zu einem Ganzen zu verknüpfen, er kann zwar aus all den Zutaten einfach keinen ganzen Kuchen backen, er kann aus seinem Erlebten keine Schlüsse ziehen, aber eine Information trat immer und immer wieder in seinen innig geliebten Büchern zu Tage. Ein Buch! Einband, Seiten, Tinte, Buchstaben, Fasern, Kleber, Faden. All dies wird ihm helfen. Er ist sich sicher.Aber wo suchen? Herr Neumann ist nicht in der Lage alle Einzelheiten in sich zu einem Ganzen zu verknüpfen. Informationen, jede Menge an Informationen durchspülen sein Gehirn. Bringen es zum Kochen, zum Sprudeln und beinahe zum Platzen. Herr Neumann leidet, obwohl ihn die Welt sicherlich beneiden würde, wüsste sie um seine Fähigkeiten.

Die Kerze erlischt. Der Kerzenstummel hatte einfach nicht mehr Ressourcen und Potential, um Herrn Neumann noch ein wenig Gemütlichkeit zu vermitteln. Sie ist einfach ausgegangen und hat zudem noch einen kleinen Bach aus Wachs zurückgelassen. Herr Neumann lies es gleichgültig zurück. Er kannte sich in seinem Labyrinth aus. Auch im Dunkeln. Er ertastete sich seinen Weg und kroch ins Bett.

Babygeschrei. Schmerzenslaute. Die Nachrichten von 1983. Ein Märchen von 1965, Fernsehfilme, Serien, Zeitungen der letzten 30 Jahre, Fakten, Fakten, Schmerzen eines Krankenhausaufenthaltes. Stimmen, Bücher, Telefonate, Postkarten, Briefe. Die letzten 1000 e-mails. Gespräche, Rezepte, Schulaufsätze, Telefonnummern. Fakten, Fakten. Sie ließen ihn nicht schlafen, all die Informationen und Bücher. Die Beleidigungen die er sein Leben lang ertragen musste. Die Häme, Beschimpfungen. Herr Neumann machte auf andere immer den Eindruck, als würde er nichts verstehen, als wäre er schwer von Begriff.

Die Welt würde ihn beneiden, wüsste sie um seine Fähigkeiten. Aber Herr Neumann leidet. Er litt die ganze Nacht. Er kann einfach nichts vergessen. Sprachen, verschiedene Wörter in allen Sprachen dieser Erde beherrschte Herr Neumann, sprechen allerdings, sprechen konnte er sie nicht. Romane las er und vergaß sie niemals. Gemeinsamkeiten darin, gleiche Vorgehensweisen, Ideen, Verknüpfungen, Verständnis, angewandtes Wissen aber blieben ihm verwehrt.

Am nächsten Morgen lag Her Neumann in seinem Bett. Angezogen, die Augen offen, an die Decke starrend. Was sollte er nur tun. Wie kam er heraus aus diesem Wahnsinn? Er litt unter dieser Informationsflut und entkommt ihr nicht. Einen Notschalter, eine Sicherung hatte er nicht. Im Gegenteil. Er musste immer mehr lesen, wissen, fressen von all diesen unnützen Informationen, worum ihn die Welt beneiden würde, wüsste sie um seine Fähigkeiten.

 

Es musste ein Buch geben, das ihm half. Vielleicht sollte es so eine Art Ratgeber sein. Die kannte er zuhauf. Tausende hat er verschlungen, keinen vergessen. Geholfen haben sie ihm allerdings nie. Dennoch, Herr Neumann stand mit einer gewissen Euphorie auf und hoffte an diesem Tag sein Schicksal ändern zu können. Den Weg zu seinem Verlag, wo er sich ab und an mal sehen lassen musste, denn die meiste Arbeit erledigte Herr Neumann von zuhause aus, richte er so ein, dass er an etlichen Buchgeschäften und Antiquariaten vorbei kam. Das machte er immer so, denn Herr Neumann kannte sämtliche Karten der Welt auswendig. Auch wenn er eine Gesamtroute nicht planen könnte, denn die verknüpfende Planung blieb ihm verwehrt, eine momentane Orientierung war ihm gegeben und dies nutzte er aus, um möglichst lange den Weg zur Arbeit hinauszuzögern. Warum sollte er sich auch beeilen, die Arbeit ist längst getan und die Kollegen würden nur wieder hinter seinem Rücken tuscheln und ihn aufziehen. Wüssten sie um seine Fähigkeiten, sie würden ihn beneiden. Aber Herr Neumann litt darunter und gäbe seine gesamte Bibliothek, um nur einmal vergessen zu können. Ja, für Herrn Neumann bestünde das Glück darin, vergessen zu dürfen. Abschalten können, entspannen, verknüpfen…leben!

 

Heute allerdings war vieles anders. Herr Neumann litt wie immer, dennoch spürte er in sich eine gewisse Euphorie, eine Anspannung und Freude wie er sie niemals zuvor erlebte. Heute würde sich etwas in seinem Leben ändern. Heute würde er das Buch finden, welches ihm den Ausweg zeigen wird aus seiner Qual.

Viele Buchgeschäfte kannte Herr Neumann und die Kataloge der Antiquariate kannte er auswendig. Meist wusste er besser wo die Bücher zu stehen hätten, als die Eigentümer. Dennoch, er hoffte immer und immer wieder auf den ultimativen Fund. Irgendwann wird er das Buch finden, das ihm erklären würde, wie er aus diesem Käfig der Fakten ausbrechen könnte. Herr Neumann ging von Buchgeschäft zu Buchgeschäft und durchstöberte alle Reihen. Für ihn war dies eine Art von Revision, denn einmal angefangen fing er an falsch stehende Bücher wieder richtig einzustellen. Die Leute schauten und wunderten sich über diesen Menschen, der mit einer Akribie jedes Buch zu kennen, zu liebkosen und an den richtigen Platz zurückzustellen schien. Die Leute würden ihn beneiden, wüssten sie um seine Fähigkeiten.

Aber Herr Neumann litt, denn unter all den hunderten und aber hunderten Büchern die an diesem Vormittag durch seine Finger wanderten, die die Einbanddeckel streichelten und jedes Blatt wiedererkannten, war keines, das er nicht kannte und schon einmal gar nicht das Buch, das er doch so sehnlichst suchte.

 

So ging er weiter, immer weiter und verzehrte sich nach dem Gedanken endlich Erlösung zu finden, ein neues Buch zu finden, das er lesen, aber wieder vergessen könnte. Ein Buch des Vergessen, das müsste es doch sein. So ein Buch muss es doch irgendwo geben.

 

Ein neues Antiquariat schien wohl neu eröffnet worden zu sein, denn an dieser Ecke war vorher ein kleiner Supermarkt. Jetzt tat sich plötzlich eine kleine Auslage hervor, vollgestellt mit Holzkisten und Büchern. Eine kleine Laterne brannte am Eingang und vermittelte den Eindruck willkommen zu sein. Herr Neumann blickte durch die Schaufenster. Der gewohnte Anblick eröffnete sich ihm. Holzregale mit Büchern Büchern und…Büchern. Eine kleine Leiter sollte die Hindernisse überbrücken zu den Büchern, die unerreichbar weit oben standen. Zeitschriften, Hefte, kleine Bücher und Folianten. Alles schien vorhanden und ordentlich an seinem Platz. Irgendwie, obwohl doch neu, kam Herrn Neumann auch dieses Antiquariat bekannt vor. Er hatte schon so viele gesehen und besucht, dass wohl eines wie alle sind, oder? Er hatte ein wenig Scheu einzutreten, aber sei´s drum. Herr Neumann litt und wollte seine Qualen beenden, vielleicht hier, vielleicht heute, vielleicht endlich jetzt!

 

Herr Neumann trat ein. Die Tür knarzte zunächst etwas, hernach klingelte ein kleines Glöckchen oben an der Tür und sollte so, wie es seine Aufgabe war, die Ankunft Herrn Neumanns ankündigen. Aber keiner kam. Niemand tauchte auf. Kein Antiquar, kein Mann, keine Frau und auch kein Kind. Herr Neumann war verwundert. Sollte er sich denn nun alleine umsehen. Er mochte dies nicht so gerne. Er wollte doch wenigstens seine Anwesenheit ankündigen, was machte das denn sonst für einen Eindruck Er blieb an der Tür stehen. Seine Augen wanderten von Regal zu Regal. Von Buch zu Buch. Er konnte nichts dagegen tun, alle Informationen der Bücher die er kannte, liefen vor seinem Auge ab. Fakt um Fakt, Bild um Bild, jede kleine Kleinigkeit wusste er. Jedes Komma, jeden Punkt und jeden Druckfehler. Die Menschheit würde ihn beneiden, wüssten sie um seine Fähigkeiten, aber Herr Neumann litt unter dieser Qual. Mit nichts konnte er sich noch überraschen, alles war bekannt, alles schon da. Eine ständige Wiederholung des immer gleichen.

Herr Neumann blieb an der Tür stehen. Eine Minute!..Zwei Minuten. Fünf Minuten. Es kam niemand. Es tauchte niemand auf. Langsam war es Herrn Neumann peinlich. Er rief eines leises hallo. Dann lauter. Niemand kam oder machte auch nur Anstalten zu kommen. Herr Neumann wollte schon wieder gehen. Er würde auch hier kein Buch finden, das er nicht schon kennen würde. Also warum diese Farce. Dennoch. Herr Neumann blieb. Er ging einen Schritt hinein in den Raum. Einen weiteren Schritt und stand mittendrin. Irgendetwas zog ihn hinein. Er kannte dieses Gefühl nur zu gut. Jedes Mal, wenn er ein Buch entdeckte, das er noch nicht kannte, wenn sich Fakten auftaten, die er noch nicht gesammelt hatte, zog ihn dieses vermeintlich neue Buch magnetisch an und er saugte es auf wie ein leerer Schwamm. So war es auch diesmal. Er war ein wenig enttäuscht. Ein unbekanntes Buch. War das alles? Wieder kein Erfolgt? Ein ganz normales Buch buhlte um seine Aufmerksamkeit. Es war kein riesiges Werk. Nichts gewaltiges. Nichts erhabenes oder unglaublich schönes. Kein Codex, wie er sie so gerne mochte und berührte, keine Foliant oder Sonderdruck. Kein schöner Einband und keine Buchmalereien. Ein ganz normales Buch. Es war ein in Leinen gebundenes, gut verarbeitetes Buch. Gebunden und geklebt, mit einem blauen Leineneinband. Es griff sich schön an, hatte aber eine normale Größe und mit knapp fünfhundert Seiten war es auch nicht übermäßig dick oder schwer. Ein ganz normales Buch. Eher schlicht und zurückhaltend zog es sich in sein Regal zurück, als wollte es sich verstecken. Vielleicht zog gerade dies Herrn Neumann an.

Die wichtigen Bücher, die sich immer nach vorne drängten und gelesen werden wollte, die kannte er alle. Aber dieses bescheidene, kleine zurückhaltende Buch hatte etwas anziehendes. Er ging auf das Buch zu und zog es ganz zu sich heraus. Auf dem Buchrücken stand kein Titel. Verdächtig. Auf dem Einband stand kein Titel. Verdächtig. So ein Buch kannte Herr Neumann noch nicht. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals. Er Schlug die Erste Seite um und fand immer noch keinen Titel. Verdächtig. Bis er endlich zum eigentlichen Titelblatt kam. Hier stand:

 

Herr Neumann sucht das Glück. Eine Anleitung zum Philosophieren.

 

Herr Neumann erschrak und blickte sich um. Er fühlte sich ertappt. Irgendwie sogar ein bisschen gefoppt. Wer machte sich lustig über ihm? Herr Neumann litt Qualen. Sicher, die Welt würde ihn beneiden, wüsste sie um seine Fähigkeiten, aber Herr Neumann litt, denn in diesem Augenblick glaubte er wieder alle Stimmen dieser Welt zu vernehmen. Und immer wieder sein Babygeschrei. Warum konnte er sich niemals vergessen?

 

Eine Stimme schreckte ihn auf? „Gefällt Ihnen das Buch?“ Herr Neumann war nicht in der Lage aufzuschauen, geschweige denn zu reagieren oder zu antworten. „Gefällt Ihnen das Buch?“ Wieder kam die Frage etwas fragender. Er wisse es nicht, meinte Herr Neumann. „Das glaube ich Ihnen sofort“, meinte die Stimme freundlich. „Dieses Buch, das Sie in der Hand haben, kann nur einer angreifen, nur einer finden, nur einer herausziehen. Sie müssen Herr Neumann sein?“ Herr Neumann bejahte und schaute verdutzt.

„Sie sind Herr Neumann, der Mann, der nichts vergisst. Der Mann, den die Welt beneiden würde, wüsste sie um seine Fähigkeiten, er aber leidet Qualen. Sie sind die Geschichte der Welt. Der Fluss des Wissens, der Fakten, der Ideen. Sie sind das sich immer wieder Wiederholende. Das Immergleiche. Sie sind die Geschichte der Welt und die Geschichte der Menschheit. Sie sind sozusagen die Idee des Wissens. Sie sind das, was die Menschen suchen und niemals finden dürfen. Sie sind das, was alle erstreben, was aber nicht erstrebenswert ist. Sie sind das, was es nicht gibt und doch jeder glaubt. Sie sind das, was wir wissen sollten aber niemals wissen werden. Sie sind der Anfang von Weisheit, aber nicht deren Vollendung. Sie sind Freude und Qual zugleich. Begierde und Leid. Sie sind der, den es nicht gibt, sondern nur in den Köpfen der Menschheit.

Sie, das unvergessene Wissen, müssen geordnet, interpretiert, beurteilt und verurteilt, eingeteilt, verortet, durchlebt und vermieden werden. Sie sind die Geschichte, die sich nicht wiederholen muss, kennt man sie, beurteilt man sie und lernt man aus ihr. Sie sind die Geschichte, die sich wiederholen darf, lernte man aus ihr, lebte man mit ihr und interpretierte man sie. Sie sind das Kapital, das zur Weisheit wird zum Guten, zum Wahren, zum Schönen. Sie sind der, der durch die liebe zur Weisheit, mit dem Wissen und durch Führung des Rechten sich auflösen wird vom Erkannten, zum Beschreibbaren, zum Bild und zur Erkenntnis bis hin zur Weisheit.“

 

Die Tür des Antiquariats knarzte. Das kleine Glöckchen, oben an der Tür, tat das, wofür es da war. Es klingelte und lenkte die Aufmerksamkeit des Mannes, der die soeben gesprochenen Worte aussprach auf den Mann, der den Raum betrat. „Was tun Sie hier?“ Fragte der Eintretende. „Ich hatte doch abgeschlossen, wie kommen Sie hier herein?“ „Es tut mir leid“, sagte der Fremde, „Sie müssen mich wohl vorhin übersehen und eingeschlossen haben. Ich habe hier auf Sie gewartet und würde nun sehr gerne diese Buch von Ihnen erstehen.“ Der Antiquar schaute verwirrt, nahm das Buch. Es war ein einfaches, bescheidenes Buch. Sehr Zurückhaltend in seiner Art. Es war außen auf dem Einband kein Titel. Auch auf dem Buchrücken stand kein Titel. Der Antiquar schlug das Titelblatt auf und las Laut:

 

"Anleitung zur Philosophie. Eine kleine philosophische Abhandlung."

 

Der Fremde bezahlte und verließ das Antiquariat. Der Antiquar setzte sich, etwas verwirrt an seinen Schreibtisch und wartete auf Kundschaft. Sein Geschäft kam ihm heute gähnend leer vor. Nur eines viel ihm auf. In seinem Buchlädchen schien sich ein positiver Gedanke, ein freundliches, erlöstes Ambiente erspüren. Er hatte das Gefühl, nur für einen kurzen Augenblick, ein zufriedenes, glückliches Gefühl durchströmte ihn, allein, weil er um sich und seine Existenz wusste.

( Von Florian Gernot Stickler, Würzburg, 24.01.2011)

 

Ein Klage – Gedicht in 6 Gesängen von Florian Gernot Stickler, 06.10.2010

1. Gesang

Wo ist sie nur, wo mag sie nur sein?

Kann man SIE rufen – Nein.

 

SIE kam nicht aus dem Dunklen, SIE geht nicht irgendwohin.

Sie ist unsere Verpflichtung, Pflicht, unser Sinn.

 

SIE mag sie beschreiben, wer kann SIE voll schauen?

SIE lässt sich erahnen nur, erfragen, erbauen.

 

Lasst uns betrachten, wann alles begann.

Lasst uns betrachten, wo sie nun ist,

so dass wir vermeiden, dass man Sie vergisst.

 

 2. Gesang

Nachdem SIE geboren und hingenommen was war,

begann wir zu denken. Nüchtern betrachtend, fragend, offenbar.

 

Nachdem die Erde, das All uns erschlossen,

mit Dialogen, Kategorien, der Logos beschlossen,

schien die Antike hell und klar

und

das ach so dunkle doch ganz helle Mittelalter war da.

 

 3. Gesang

Dunkel war es? Dunkel doch nicht.

Lux aeterna – Im Anfang ward Licht!

Man suchte, man forschte mit Platon und dem Philosoph.

Weisheit Arabiens, Spaniens, Pseudo-Dionysios.

Canterbury, Aquino und ach so viele mehr,

lehrten, forschten, bewiesen um diese Heilige Lehr´

Sacra doctrina, so ward sie genannt.

Die Philosophie zur Magd nun verbannt.

 

SIE verlor sich nicht ganz, so gab SIE nicht auf,

SIE floss nicht vollends in den theologischen Lauf

Nicht zum Nachteil sollt IHR das sein.

Befruchtung und Erkenntnis und Wissen stellten sich ein.

Doch was sollt´werden aus diesem Substrat?

Negierung, Aufweichung, Verfehlung, Verrat?

 

 4.Gesang

Kann, will, wird SIE noch isoliert besteh´n,

oder schon war, ist, wird sie in Phrasen, Geschwätz und Luft untergeh´n?

Vergessen, aufgelöst in Nichts, oder doch noch da – unnahbar?

 

War es weise, was Giordanos Geist ihm befahl,

oder Sturheit, Starrsinn bloß. Die Lust auf Qual?

Oder war er er ein Kämpfer, ein Streiter für Philosophie?

Oder war er hier und dort allein?

Unnachgiebig, selbst eitel?

Allein, der kämpfend, streitend, ein Fragender wollt sein?

 

Nun denn, da war SIE wieder.

Isoliert, gefragt, befragend, denkend, jäh.

Zäh harrte Descartes cogito,

Leibniz´ Monaden sowieso.

Newton brachte die Natur mit hinein.

SIE spaltete sich wieder, ließ sich teilen entzwei´n.

Wie könnt´es auch anders sein in: Vieles, Kleines, Unbestimmtes.

Bewahrtes, vergaß zu fragen.

Sich selbst verliebtes, bestimmtes verharrtes.

 

Doch dennoch, ist SIE da.

In Rousseau, Voltaire, Hume und Diderot.

Kant hob SIE wieder auf und an und sich. Die Geister die er rief,

aufklärerisch.

A priori, aposteriori, kategorischer Imperativ.

 

Herder, Fichte, Hegel,

Kierkegaard und Schlegel.

Nietzsches Zarathustra, Schopenhauers Wille,

vertiefen, riefen die Philosophie,

hin, hinauf,zur einer neuen Theorie.

Entweder – Oder. Fragen sind da!

Entweder – Oder. Fragen sind nah und näher. Immer näher.

Das ist SIE, die wahre Philosophie.

 

Bis hin zum Satz, Sätze und Bau.

Maßstab und Maß, die philosophische Schau.

Vom Satzspiel, Hirn, Gedächtnis und Schaum

des Unsagbaren las man weiter in IHR

und fragte und labte sich an den Paradoxa,

die sich ergeben und schweben im luftleeren Raum.

 

 5.Gesang

Wo ist SIE nur? Wo mag SIE sein?

Wo ist SIE nur, SIE fällt nicht mehr ein

in das Gerede, das Geschwätz, das Geplapper und Gehetz.

Die hohlen Phrasen.

Erlaubt sich nicht mehr Argument zu sein, noch Frage,

nicht Spiel, noch Gerede mit Kontur, Kultur. All das muss SIE doch sein!

Viel wird geredet, doch wenig gesagt!

Viel wird gewusst, doch wenig gewagt!

Viel wird erahnt, doch wenig gefragt!

Viel wird behauptet und viel wird verklagt!

 

6. Gesang

Was ist es nur, was ich suche, erfrage, denke und vermisse,

was Risse zeigt, fehlt, Lücken lässt,

in allem Wissen und Kulisse?

 

Von Wissen, Erforschtem, Erdachtem doch nur Schein,

was den Menschen nicht, groß, größer, erwachsen macht,

doch klein.

Es gibt viel Wissen, aber niemand der Weiß!

Es gibt viel Macht, aber niemand der macht!

Es gibt viel Weisheit, aber niemand weiß wo!

Oder gab es SIE nur zu einer Zeit

so, sieh im ersten, zweiten und jedem Gesang,

nie war SIE fort, immer in Gang.

SIE ist nicht vergessen, stets, immer und da.

Zu streiten, zu wissen, bereit zur Frage,

fürwahr!

Bist Du bereit für diese Reise? Auszubrechen

aus diesem Kreise,

hinein in das Abenteuer Frage. Antworten

zu suchen zu geben.

Zu laben sich am Ureignen SEIN,

 

Das Wissen zu suchen und nicht den Schein!

(Klage-Gedicht von Florian Gernot Stickler, Würzburg, 06.10.2010)